Was macht den Fußball so faszinierend?

Über Wahrheiten, die nicht einmal auf dem Platz liegen

Viele Experten haben schon Antworten gesucht auf diese Frage. Und sehr unterschiedliche gefunden:  Fußball als archaischer Kampf, der Fußballer als Inkarnation des Homo ludens, der Ball und das All, Gott ist rund. Die meisten suchen die Antwort auf dem Platz, wo ja die Wahrheit hegen soll. Das führt aber zu nichts. Nicht weil die Wahrheit wo anders zu finden wäre, sondern weil es Wahrheit, verstanden als Übereinstimmung von Erkenntnis mit dem Erkennungsobjekt, im Fußball gar nicht gibt.

Wer richtig hinhört, wenn über Fußball geredet wird, von Spielern, Trainern und Kommentatoren, der wird das Erfolgsgeheimnis des Fußballs schnell erkennen: Es ist gerade die Unberechenbarkeit des Spiels. Fußball entzieht sich exakter Wissenschaft. Es ist wie in der Physik: Man glaubt, Ballkurven ballistisch berechnen zu können, Einfallswinkel und Ausfallswinkel geometrisch bestimmen zu können, die Einflüsse von Gravitation, Energie und Gewicht mit Newton vorhersehen zu können – und dann kommt ein fußballerischer Heisenberg mit seiner Quantenphysik und erklärt uns, daß man nie genau weiß, wann sich ein Teilchen (der Ball?) wo genau aufhält.

Diese Unschärferelation ist das Geheimnis des Fußballs. Nicht mehr und nicht weniger. Die Fußballspieler und ihre Deuter selbst bezeugen das. Nichts ist sicher, nichts hat Bestand, nichts ist in diesem Sinne wahr. Selbst auf das scheinbar Exakte, Zählbare ist kein Verlaß. »Wie steht’s denn?« Diese harmlose Fanfrage kann sehr unterschiedlich beantwortet werden: In einem Videotext der ARD reichte der DFB-Elf ein »0:0-Zittersieg gegen die Türkei«. Und Kommentator Heribert Fassbender setzte noch einen drauf: »Es steht im Moment 0:0. Aber es hätte auch umgekehrt heißen können.« Was beim ersten Hören wie ein Lapsus des Reporters erscheint, ist in Wirklichkeit die Einsicht in das Ungefähre des Fußballs.

Das hat auch der Freiburger Trainer Volker Finite im Bück, wenn er formulierte: »Ich habe zwei verschiedene Halbzeiten gesehen.« Selten wurde das Zeit-Raum-Kontinuum besser gefaßt. Fußball ist Konjuktiv. »Wäre meine Oma ein Bus, würde sie hupen«, so hat es der Bremer Nationalspieler Dieter Eilts einmal auf den Punkt gebracht. Auch Gyula Lorant wußte: »Der Ball ist rund. Wäre er eckig, wäre er ja ein Würfel.« Und wir bekommen eine Ahnung, warum es schön und gut ist, daß sich das runde Leder den exakten Wissenschaften systematisch entzieht. »Das Chancenplus war ausgeglichen.« Dialektischer, ja hegelscher als Lothar Matthäus läßt sich die Einheit der Widersprüche eines Fußballspiels kaum ausdrücken. Sieg und Niederlage, das hängt nur oberflächlich betrachtet an der Zahl der erzielten oder eingefangenen Tore. Das musste auch Trainer-Fuchs Aleksander Ristic einsehen: »Wenn man ein 0:2 kassiert, ist ein 1:1 nicht mehr möglich.« Oder vielleicht doch? »Rosenborg hat 66 Spiele gewonnen, und sie haben in jedem getroffen.« Brian Moore hat mit diesem Satz Sieg und Torerfolg so überzeugend entkoppelt, daß dem Fan jede scheinbare Gewißheit genommen ist.

Fußball ist das Gegenteil von schnöder Präzision. Und wirkt fast peinlich,wo sie eingefordert wird, wie bei Alt-Bundestrainer Berti Vogts: »Wenn jeder Spieler zehn Prozent von seinem Ego an das Team abgibt, haben wir einen Spieler mehr auf dem Feld.«  Nur Ignoranten sehen in diesen Äußerungen Tor-Heiten oder vermuten ein gestörtes Verhältnis zu Zahlen. »Das Tor gehört zu siebzig Prozent mir und zu vierzig Prozent dem Wilmots«, hat der Schalker Ingo Anderbrügge gesagt. Und lenkt damit den Blick auf die zentrale Botschaft, daß es hundertprozentige Wahrheiten einfach nicht gibt im Fußball. Es sind also keine Versprecher, die wir hören. Es sind nicht einmal unbedingt Freudsche Fehlleistungen. Denn nicht nur Unbewußtes bahnt sich hier seinen Weg aus dem Verdrängten. Hier werden große Zusammenhänge gesehen: »Die Franzosen sind gute Engländer geworden« (Reinhold Beckmann). Das ist Globalisierung pur – eine Art Relativitätstheorie.

Oder sagen wir es mit Klaus Augentlialer fußballlerisch: »Wir leben alle auf dieser Erde, aber eben auf verschiedenen Spielhälften.« Das ist wahr. Wenigstens so ungefähr.

Helmut Rehmsen