Apus Apus

von Hans Magnus Enzensberger

Er wiegt nur vierzig Gramm.
Monatelang lebt er in der Luft, ununterbrochen,
jagt, liebt und schläft hoch oben.
Er ist unbezähmbar.
„Herrschsüchtig, stürmisch, übermütig“,
nennt ihn der alte Brehm.
Schrille Rufe im rasend kreisenden Schwarm,
wütende Kämpfe aus Eifersucht.
Unbeholfen am Boden, fliegt er mühelos
drei-, vier-, fünftausend Meter hoch
über unsre Köpfe hinweg
in die Tropen.
Er ist windschnittig gebaut.
Er kommt ohne Radar aus.
Er trinkt im Gleitflug über die Wasserfläche hin.
Er ist wetterfühlig.
Lang segelt er bewegungslos mit der Thermik,
aber sein Sturzflug ist rasant.
Unsre Bewunderung geht ihn nichts an.

 

Nicht mutig

von Marie Luise Kaschnitz

Die Mutigen wissen
Daß sie nicht auferstehen
Daß kein Fleisch um sie wächst
Am jüngsten Morgen
Daß sie nichts mehr erinnern
Niemandem wiederbegegnen
Daß nichts ihrer wartet
Keine Seligkeit
Keine Folter
Ich
Bin nicht mutig

 

Ikarus

von Justinus Kerner

Mir träumt‘, ich flög‘ gar bange
Weit in die Welt hinaus,
Zu Straßburg durch alle Gassen
Bis vor Feinsliebchens Haus.

Feinsliebchen ist betrübet
Als ich so flieg und weint:
Wer dich so fliegen lehrte
Das ist der böse Feind.

Feinslieb, was hilft hier lügen
Da du doch alles weißt:
Wer mich so fliegen lehret,
Das ist der böse Geist.

Feinsliebchen weint und schreiet
Daß ich am Schrei erwacht
Da lieg ich, ach! in Augsburg
Gefangen auf der Wacht.

Und morgen muß ich hangen
Feinslieb mich nicht mehr ruft,
Wohl morgen als ein Vogel
Schwank ich in freier Luft.

 

Der Narr epilogiert

von Johann Wolfang von Goethe

Manch gutes Werk hab ich verricht,
Ihr nehmt das Lob, das kränkt mich nicht:
Ich denke, daß sich in der Welt
Alles bald wieder in’s Gleiche stellt.
Lobt man mich weil ich was Dummes gemacht,
Dann mir das Herz im Leibe lacht;
Schilt man mich weil ich was Gutes getan,
So nehm ichs ganz gemächlich an.
Schlägt mich ein Mächtiger daß es schmerzt,
So tu ich als hätt‘ er nur gescherzt;
Doch ist es einer von meines Gleichen,
Den weiß ich wacker durchzustreichen.
Hebt mich das Glück, so bin ich froh
Und sing in dulci Jubilo;
Senkt sich das Rad und quetscht mich nieder
So denk ich: nun es hebt sich wieder!
Grille nicht bei Sommersonnenschein
Daß es wieder werde Winter sein;
Und kommen die weißen Flockenscharen,
Da lieb ich mir das Schlittenfahren.
Ich mag mich stellen wie ich will,
Die Sonne hält mir doch nicht still,
Und immer gehts den alten Gang
Das liebe lange Leben lang.
Der Knecht so wie der Herr vom Haus
Ziehen sich täglich an und aus,
Sie mögen sich hoch oder niedrig messen:
Müssen wachen, schlafen, trinken und essen.
Drum trag ich über nichts ein Leid;
Machts wie der Narr so seid ihr gescheit!

 

Freudvoll und leidvoll

von Johann Wolfgang von Goethe

Freudvoll
Und leidvoll
Gedankenvoll sein,
Langen
Und Bangen
In schwebender Pein,
Himmelhoch jauchzend,
Zum Tode betrübt;
Glücklich allein
Ist die Seele, die liebt.

 

„Hörst du wie die Brunnen rauschen?“

von Clemens Brentano

Hörst du wie die Brunnen rauschen?
Hörst du wie die Grille zirpt?
Stille, stille, lass uns lauschen,
Selig, wer in Träumen stirbt.
Selig, wen die Wolken wiegen,
Wem der Mond ein Schlaflief singt,
O wie selig kann der fliegen,
Dem der Traum den Flügel schwingt,
Daß an blauer Himmelsdecke
Sterne er wie Blumen pflückt:
Schlafe, träume, flieg‘, ich wecke
Bald dich auf und bin beglückt.